Herr Chavaz, das Spielzeitheft für Ihr erstes Jahr in Magdeburg liegt druckfrisch auf dem Tisch. Dem voran gegangen sind aber schon anderthalb Jahre, in denen Sie sich auf Ihre Aufgabe als Intendant unseres Stadttheaters vorbereiten konnten. Wie macht man das – wie begegnet man einer Stadt, die man noch nicht kennt?
Meine erste Integrationsmaßnahme war der Kauf eines Fahrrads samt Schloss beim Nachbarn, Zweirad Schulze. Mit dem Fahrrad „erfährt“ man eine Stadt sehr schnell. Ich habe Restaurants, Kultureinrichtungen, Cafés besucht und an typisch Magdeburgischen Events teilgenommen – zum Beispiel einem FCM-Spiel gegen Halle. Mittlerweile fühle ich mich fast wie ein echter Magdeburger.
Und was ist Ihnen an Magdeburg besonders aufgefallen?
Der Raum! Es gibt Platz für Alles – da lebt es sich viel leichter als etwa in Schweizer Großstädten. In den leeren Fabrikhallen möchte man sofort Theater spielen. Großartig finde ich auch die enge Bindung der Bürger zu ihrem Stadttheater. Das ist in anderen europäischen Ländern, oder gar in Amerika nicht üblich. Und es verpflichtet.
Werden Sie also Theater für die Bürger machen?
Theater entsteht immer in Wechselwirkung mit dem Publikum – insofern ist mir die Beziehung zum Publikum besonders wichtig. Wir werden neue Formate zur Begegnung mit dem Publikum einführen: zum Beispiel unser Diskursformat „Knall!“ oder den Club „Let’s talk about“ für Menschen, die gemeinsam ihre Theatererlebnisse reflektieren wollen. Zudem starten wir eine Offensive in Sachen Künstlerische Vermittlung. Natürlich für Kinder und Jugendliche – etwa mit dem Winterferienprojekt „Bande 23“. Aber auch für Communities, die bisher keinen direkten Draht zum Theater haben. Ich liebe zum Beispiel die Fangesänge in Fußballstadien (in der Schweiz erlebt man das eher beim Eishockey) – und werde darum FCM-Fans in das große Theaterfest zum Spielzeitauftakt am 10. und 11. September einbinden.
Sie scheinen auch auf die Freie Szene zugehen zu wollen. Es hat sich bereits herumgesprochen, dass Sie schon vielerorts zu Besuch waren …
Die Kommission, die mich für diesen Posten ausgewählt hat, hat großes Gewicht auf Kooperationen und Netzwerke gelegt. Dadurch, dass ich in den letzten 15 Jahren international viel in der Freien Szene gearbeitet habe, ist diese Vernetzung für mich eine Selbstverständlichkeit. Insbesondere in einer Stadt wie Magdeburg, in der das Stadttheater sehr dominant ist und es vergleichsweise wenig Raum für die Freie Szene gibt, empfinde ich nicht nur ein künstlerisches Interesse an, sondern auch eine politische Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Freien Szene. Wir können und wollen keine Institution mit geschlossener Tür sein, die sich nicht dafür interessiert, was außerhalb geschieht.
Wie wird diese Zusammenarbeit aussehen?
Da möchte ich noch nichts vorwegnehmen. Ein größeres Projekt ist für unsere zweite Spielzeit geplant – man kann nicht alle Visionen gleich zu Beginn umsetzen.
Welchen Eindruck haben Sie denn von der hiesigen Freien Szene?
Sie hat viel Potential – man müsste sie nur viel sichtbarer machen. Die neuen künstlerischen Handschriften, die ein junges Publikum ansprechen, scheinen zu fehlen. Mit dem Theater möchte ich beitragen, dass diese Szene stärker zum Ausdruck kommt. Progressive Handschriften entstehen nicht einfach so – das Publikum muss daran gewöhnt werden. Hier könnten wir gut zusammenarbeiten.
Etwa mit Robotern? Im Spielzeitheft ist zu lesen, Sie hätten zwei Roboter für das Schauspielensemble engagiert …
Das ist natürlich augenzwinkernd gemeint. Roboter ersetzen keine Schauspieler. Aber mit „Nessun Dorma“ haben wir tatsächlich eine Romanze für einen Industrie- und einen Wischroboter im Programm. Sie heißen ARKA und PUTZINI. Das ist zum Beispiel so ein Projekt, das in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern als freies Projekt entstanden ist.
Als öffentlich wurde, dass Sie das Theater Magdeburg übernehmen würden, waren durchaus skeptische Stimmen zu hören: Kann so ein „junger Wilder“ denn auch einen so großen „Tanker“ von 400 Mitarbeitern führen?
Ach, es ist immer besser, unterschätzt zu werden, als wie der Messias daherzukommen. Meine Strategie ist nicht, alles neu zu erfinden, sondern auf Bisheriges aufzubauen. Evolution statt Revolution. Theater ist ein Projekt in ständiger Bewegung und immer auch ein Spiel mit den Bedingungen. Entscheidend sind für mich nicht die internen Strukturen, sondern der Geist, mit dem Theater gemacht wird – und mit meinem jungen Team sehe ich einen großen Geist des Aufbruchs.
Was also bleibt gleich, was wird anders?
Gleich bleibt zum Beispiel die Gewichtung der einzelnen Sparten – wir haben dreizehn Premieren im Schauspiel, zehn in der Oper und drei im Ballett geplant; dazu kommen zehn Sinfoniekonzerte. Auch führen wir das erfolgreiche Format des Domplatz-Open-Airs fort. Ich finde es künstlerisch richtig, diesen großartigen Schauplatz zu nutzen.
Neu ist natürlich das gesamte Leitungsteam – neben mir als Operndirektor bestehend aus Jörg Mannes als Ballettdirektor und Clemens Leander, Bastian Lomsché sowie Clara Weyde als Schauspieldirektion, die je eigene Akzente setzen werden. Außerdem werden wir jährlich einen Composer in Residence engagieren. Damit akzentuieren wir das bereits durch meine Vorgängerin sehr gut etablierte zeitgenössische Repertoire noch einmal. Den Beginn macht der irische Komponist Gerald Barry, der mit seinen 71 Jahren unglaublich schräge, humorvolle, und dennoch eingängige zeitgenössische Musik schreibt. Er wird für uns kammermusikalische und sinfonische Werke sowie die Oper „Alice im Wunderland“ komponieren, die ich selbst inszenieren werde.
Richtig. Sie sind ja nicht nur Intendant, sondern auch Opernregisseur. Wie würden Sie Ihren Regiestil beschreiben?
Ich konzentriere mich sehr auf die Darsteller. Für mich ist gute Regie zu 95% Personenregie. Dazu brauche ich keine opulenten Bühnenbilder. Außerdem stehe ich für ein buntes Theater, das nicht unbedingt der Realität entsprechen muss. Theater sollte eine eigene Bild- und Körpersprache sprechen und über die Wirklichkeit hinausgehen. Auf der Bühne die Realität nachzuahmen, wäre für mich eine vertane Chance.
Apropos Realität: Sie stehen ja nicht nur vor einem persönlichen Neuanfang, sondern auch vor einem Neuanfang nach Jahren der Einschränkung. Corona hat die Unmittelbarkeit von Theatererlebnissen lange unmöglich gemacht. Wird das Publikum zurückkommen?
Ich glaube nicht, dass uns die Corona-Zeit das Bedürfnis nach Gemeinschaft genommen hat. Sicherlich wird das Publikum nicht per Knopfdruck wieder in die Theater strömen – aber Schritt für Schritt wird es wieder zum kollektiven Erleben von Theater bereit sein. Schließlich ist das Theater einer der letzten Orte, in dem Menschen zusammenkommen und ihre Handys ausstellen. Die CD hat nicht das Live-Konzert ersetzt; Netflix wird nicht das Theater ersetzen. Ich sehe die Zukunft positiv. Aber dafür muss man arbeiten. Und Theater ist Knochenarbeit.
Herzlichen Dank, Herr Chavaz – und Ihnen und Ihrem Team ein glückliches Ankommen in Magdeburg, weitgeöffnete Türen in sämtlichen Communities und viel Erfolg mit Ihrem künstlerischen Programm!
© HL Böhme
Opernhaus/Theater Magdeburg
Universitätsplatz 9, 39104 Magdeburg
Theaterkasse im Opernhaus Mo bis Fr: 10.00 bis 18.30 Uhr, Sa: 10.00 bis 14.00 Uhr Sonn- und Feiertags: geschlossen. Abendkasse öffnet eine Stunde vor Vorstellungsbeginn.