© Engelhardt
Tim Kramer
Seit dem 1. August 2019 ist er der neue Schauspieldirektor am Theater Magdeburg.
„Ich habe einen sehr guten Eindruck von Magdeburg. Die Stadt ist weitaus offener und freundlicher, als ich anfangs dachte“, sagt Tim Kramer und schiebt nach: „Gut, anfangs findet man das Stadtzentrum nicht …“. Über ein Jahr ist es her, seit im Mai 2018 seine Verpflichtung als Nachfolger von Cornelia Crombholz bekanntgegeben wurde, genug Zeit also, die Stadt und ihre Menschen ein wenig kennenzulernen. Magdeburg ist seine zweite Station als Schauspieldirektor. Am Theater St. Gallen hat er – nach maximaler Vertragsverlängerung – gezeigt, dass er es kann. Er brachte das Schauspiel gegenüber dem dort traditionell starken Musiktheater wieder auf Augenhöhe. In seiner Zeit entstand mit der Lokremise auch eine neue Spielstätte für zeitgenössische Dramatik, in der er das Publikum mit ungewöhnlichen Formaten wie einem Kulturvermittlungsprojekt mit jungen Arbeitslosen konfrontierte, wo er auch erfolgreich den Nachwuchs förderte. Ein wesentlicher Teil seines Erfolges aber war, dass er seinem Publikum immer wieder mit Geschichte und Geschichten aus der Region konfrontierte. 2016 trat er nach neun Jahren ab. Nach drei Jahren direktoraler Pause, die Kramer mit Inszenierungen und als Schauspieler (zuletzt als Jerry in „Betrogen“ von Harold Pinter und als Gustav in „Toulouse“ von David Schalko) zugebracht hat, ist er jetzt in Magdeburg.
Nach der Ostschweiz nun also Ostdeutschland. Für den geborenen Berliner ist es nach Jahren in Österreich und der Schweiz auch so etwas wie Heimkehr. Gut, Kramer ist westdeutsch sozialisiert, aber zum „Osttheater“, wie er es nennt, gab es während seinen langen Jahren in Wien immer Berührungspunkte, samt Brecht-Workshops. „Grundsätzlich fühle ich mich als Schauspieldirektor der Stadt und der Region verpflichtet, dass ich von außen komme, empfinde ich als Vorteil.“ Was ihn aber eigentlich reizte, ist wohl das „ungesättigte“ Publikum: „Bei meinen bisherigen Begegnungen habe ich die Magdeburger als unglaublich offen und neugierig empfunden. Das gesättigte Publikum ist dagegen viel schwieriger.“ Er denkt dabei wohl an die saturierten Schweizer zurück.
Welche Themen will er setzen, welche Grundlinie verfolgt er? „Für mich ist es die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen einer immer stärker pluralistischen und globalisierten Welt. Was sind unsere Bezugspunkte bei moralischen Entscheidungen, wenn Begriffe wie Religion, Heimat oder Staat obsolet werden und einzig die Ökonomisierung unserer Lebensumstände bleibt?“, beschreibt er es. Es geht ihm um die Zerrissenheit der Menschen durch die zunehmende Überforderung „und im Osten hat diese Überforderung nochmal stärker und schneller stattgefunden.“ Mit den Auswirkungen dieser Entwicklung will er sich in seinem Schauspiel auseinandersetzen. Eines dieser regionalen Themen, die er umsetzen will, ist „Die Eroberung des Südpols“. Das Stück von Manfred Karge erzählt von vier rumhängenden, arbeitslosen Kumpels und ihrer spielerische Flucht aus der Realität in die erträumte Abenteuerwelt Roald Amundsens. Für ihn ist das Stück in mehrfacher Sicht eine Herzensangelegenheit: „Es freut mich zum einen, dass Karge von seinem Stück extra eine Magdeburger Fassung geschrieben hat. Auch für ihn schließt sich ein Kreis. Den heute über 80-jährigen Karge lernte er einst in Wien kennen und debütierte dort in seinen „Mauerstücken“, dem ersten Schauspiel über die politische Wende 1989.
Aber die erste Malaise, eben jener Ökonomie getrieben, wartete bereits: Wenige Tage bevor Kramer Mitte August seine Arbeit richtig aufnahm, kündigte die gastronomische Betreibergesellschaft des „Mephisto“ im Schauspielhaus den Vertrag. So steht der neue Direktor erstmal ohne funktionierendes Theatercafé da, das für ein solches Haus doch eine wichtige Schnittstelle zur Stadt ist. Keine optimalen Anfangsbedingungen also.
Aber einer wie Kramer lässt sich davon nicht beirren, seine Maxime heißt: „Theater ist nur so lange Theater, wie es etwas bewirken will.“ Er setzt auf Dialog: Dialog auf der Bühne und Dialog in den Zuschauerraum hinein, nein, gleich hinein in die ganze Stadt. Kramer möchte einen einfachen Zugang zum Theater, „weg von dieser Kunstparanoia“. Klar, dass er den Theaterjugendclub ebenso behalten hat wie das seit 2014 bestehende Bürgerensemble. Auf der Bühne will er auch unbequeme Entwicklungen verhandeln, „die AfD habe ich in Österreich schon vor 20 Jahren mitgemacht.“ Seinem Ensemble schwört er ein mit Sätzen wie: „Wir haben eine Verabredung mit dem Publikum, dass das auf der Bühne echt ist.“ Die Ideen dafür entwickelt er gemeinsam mit Chefdramaturgin Elisabeth Gabriel. Und dem potentiellen Publikum möchten sie am liebsten direkt auf der Straße begegnen, sich mit den Magdebürgern vertraut machen, sie richtig kennenlernen. Gut, das haben andere vor ihm auch schon so gemacht: Tobias Wellemeyer entdeckte bei seinen Gängen durch die Stadt einst „auffällig viele muskelbepackte junge Männer in der Stadt“ und irritierte mit seinen Wahrnehmungen die Magdebürger.
Zum Eröffnungswochenende Anfang Oktober bietet Tim Kramer dem Publikum vier Spielformen. Demonstrativ am Anfang steht seine eigene Inszenierung von Bertold Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ (Premiere 3.10.), das 1943 in Zürich uraufgeführt wurde. Für Kramer ist es ein Musterbeispiel für dessen episches Lehrtheater: „Brecht hat es vorgelebt, dass es keine Bildung ohne Unterhaltung gibt. Und die gesamte Theaterentwicklung ist ohne seine Idee von Theater nicht zu denken.“ Einen gesellschaftlichen Spiegel hält uns dann das Stück „Konsens“ (4.10.) der britischen Dramatikerin Nina Raine vor. Als hätte sie die MeToo-Debatte vorausgeahnt, thematisiert sie sexuelle Gewalt und professionelle Gefühlskälte. Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls wird es mit der hörbaren Stadtrauminszenierung „Utop 89 – Und wer kümmert sich jetzt um die Fische?“ (5.10.) von willems & kiderlen eine Performance geben, deren Fragestellung heißt: Was ist aus den Utopien von 1989 geworden? Als vierte Premiere thematisiert die Umsetzung von Albert Camus‘ Monolog „Die Pest“ (5.10.) die Fähigkeit unserer Gesellschaft zur Solidarität.
Und so wie Tim Kramer es als seine Verantwortung sieht, den Schauspieler in den Mittelpunkt zu stellen, wird der gelernte Schauspieler auch in seiner ersten Magdeburger Spielzeit als schauspielernder Direktor zu erleben sein: „Auf der Bühne stehend bekommt man noch einmal ein ganz anderes Gefühl für das Publikum.“ Aber das ist noch Zukunftsmusik. Beste Gelegenheit, den Neuen zu beschnuppern, ist seine „Zugabe 1“, bei der Kramer sein Ensemble vorstellt und über seine Vorhaben spricht.
Zur Veranstaltung: Zugabe #1, am 8. September im Schauspielhaus
© HL Böhme
Opernhaus/Theater Magdeburg
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