© Jan Reiser
Intendant vom Theater Magdeburg Julien Chavaz
Herr Chavaz, fühlen Sie sich mittlerweile angekommen in Magdeburg?
Komplett. Ich bin viel auf meinem Fahrrad unterwegs, fahre damit zur Arbeit, aber auch ins Elbumland. Wenn es sonnig ist, verbringe ich hier sehr gerne meine Zeit an diesen besonderen Orten, in der Datsche, dem Mückenwirt oder, was ich gerade erst entdeckt habe, in der Milchkuranstalt.
Glauben Sie, dass Sie inzwischen ein Gefühl für das Magdeburger Publikum entwickelt haben?
Also die Zahlen sprechen für uns, wir haben gute Zahlen. Das heißt nicht, dass wir nicht auch ein, zwei Leute verlieren. Ich entdecke jeden Tag das Publikum und denke dabei, es ist schön, dass nicht alles kalkulierbar ist. Nehmen wir den „Liebestrank“, eine sehr zugängliche Inszenierung, schöne Musik für alle, die aber nicht so toll ausgelastet war. „Alice im Wunderland“ dagegen, wo ich dachte, mein Gott, das wird zu verrückt, das ist Musik für Spezialisten, wurde zu einem Renner. Oder „Sex und Kartoffeln“, ein komplettes Entwicklungsstück, bei dem ich dachte, okay, das ist wirklich etwas viel: Das ist voll. Publikumsfindung heißt nicht nur, oh mein Publikum mag Pommes und Salat und da koche ich Pommes und Salat. Nein, ich mache auch was Spezielles, und ich sehe, wie mein Publikum darauf reagiert. Das ist ein Dialog, diese Publikumsfindung, das ist nicht nur eine Entdeckung von Geschmack und Erfüllung dieser Geschmackssegmente.
Wenn über Theater geredet wird, da geht es gern ums Geld und es wird gern geklagt. Wenn man sich in Magdeburg ein bisschen umhört, mit den Leuten redet, hört man aktuell wenig Klagen. Was machen Sie anders?
Ich weiß es nicht. Ich arbeite jetzt nicht tagtäglich mit dem Drang, etwas anders zu machen. Eigentlich kann ich auch von wir sprechen, ich spreche ja im Namen von den anderen Sparten-Direktionen, wir machen das Theater, das uns gefällt, das uns bewegt, was uns Freude bringt und was uns die Motivation gibt, so viel Zeit und Stunden und Energie zu investieren. Auf jeden Fall kann ich sagen, dass wir viel in die Spielfreude investieren. Viele Inszenierungen, viele Shows, die wir präsentieren, haben eine spezielle Perspektive, sind ästhetisch. Aber in all dem haben wir einen großen Spaß. Und ich glaube, man kann ein anspruchsvolles Theater machen, man kann ein Theater machen, wo nicht jede Inszenierung gefällt, aber man darf nicht an dem Grundziel vorbeischauen – das ist die Spielfreude – und dem Publikum das Gefühl geben, dass was wir da machen, das macht uns ehrlich Spaß. Und das merkt das Publikum.
Und hat es sich bewährt, statt eines Schauspieldirektors das Team zu haben?
Ja. Aber am Schluss glaube ich nicht, dass da ein Textbuch ist, was uns die beste Struktur vorgibt. Am Schluss sind Menschen wichtig, und diese Dreierkonstellation im Schauspiel funktioniert. Ich war offen für alle Vorschläge und sie haben sich einfach künstlerisch durchgesetzt. So folgt die Richtigkeit der Struktur eher dem, was mit diesen Menschen funktioniert. Das hat sich bewährt und das Schauspielensemble ist wirklich sehr kompakt und sehr zusammen und eine große Koalition.
Sie machen sichtbar viel Theater für Jüngere. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die damit große Probleme haben, die nichts mit den Stücken anfangen können.
Es ist unmöglich, auf einzelne Situationen mit einem gesamten Spielplan die Antwort zu finden. Auf jeden Fall finde ich, wir bieten eine enorm große Diversität an, also es gibt wirklich Inszenierungen in jeder Sparte, die auch das Publikum von gestern, oder das Publikum was schon seit 40 oder 50 Jahren ins Theater geht, mitnimmt. Ich habe zum Beispiel gesehen, dass die Publikumsstruktur ganz spannend war bei Meister Röckle, natürlich eine moderne Spielansicht, da konnte ich viele Leute erkennen, die noch die DDR-Zeit miterlebt haben. Ich glaube, die Skepsis hat ein bisschen zu tun mit dem Temperaturschock. Auch beim Ballett, wo alle Leute jetzt meinen, das wäre der Renner, war das in den ersten zwei Monaten der Spielzeit nicht so, da war noch Skepsis, es sei zu modern und man können keine Geschichte erkennen. Es ist klar, dass das Schauspiel die Sparte ist, die das Publikum so ein bisschen verjüngt. Es ist klar, dass Theater eine Maschine ist, die sich permanent nach vorne in die Zukunft bewegt. Aber wir machen das mit 30 Premieren diese Spielzeit, also wenn jemandem die Odysee nicht gefällt, ist das total akzeptabel. Theater ist kein Sofortkonsumbefriedigungakt. Ja, wir machen auch Operette und Musical, um Zugänglichen Spaßabende anzubieten, aber Theater soll Abende präsentieren, wo es eher um die langfristige Konfrontation mit dem Stoff geht. Theater ist auch, mit dem Unerwarteten konfrontiert zu werden.
Wie ist denn die Besucherentwicklung der Philharmonie?
Unsere Gesamtzahlen sind wunderbar, besser als vor der Pandemie. Das ist für mich eine große Überraschung. Nach Intendantenwechseln gibt‘s oft zwei, drei Jahre lang einen Rückgang. Die Philharmonie ist die Sparte, die am meisten am Domplatz funktioniert, und das Publikum ist auch das, was am meisten durch die Pandemie gelitten hat, denn das ist ein etwas älteres Publikum und es ist das typische Abo-Publikum, ein Problem, was die gesamte Theaterlandschaft betrifft, denn die Anzahl an Karten, die wir über ein Abonnement verkaufen, nimmt ab.
Wie ist die Bilanz mit den kleinen Formaten, wie der Clubkultur oder Kerben?
Diese kleinen Formate, das sind unsere Multiplikatoren. Sie sind im Schauspiel sehr ausgeprägt, aber wir haben sie auch im Ballett in der Bibliothek. Ins Theater zu gehen, ist etwas anderes, als einen Film auf Netflix zu schauen. Beim Theater entwickelt man eine persönliche Beziehung, man mag den Ort, man mag die Stimmung, man erkennt die Spieler, man mag die Kommunikation. Es gibt eine komplexe Beziehung zwischen einem Publikumsmitglied und seinem Theater. Und diese kleinen Formate sind natürlich inhaltlich spannend, aber die helfen auch, diese Einbindung mit einem Theater zu etablieren. Immer wenn mir jemand etwas zu einer der Inszenierungen sagen will, fangen sie so an: Ja, vor 20 Jahren war ich an der Singakademie oder als Kind war ich in den Kammerspielen und habe da mitgeholfen. Also es gibt immer diese Beziehung zum Theater, zum Ort, zur Marke, und dazu dienen diese Abende. Sie sind auch eine Möglichkeit, eine lockere Beziehung zum Theater zu entwickeln, wie bei unseren Partys, wie bei „Legit Love“. Das sind viele jüngere Menschen, die vermutlich nicht am nächsten Tag in die Oper gehen, aber die in vielleicht 5 Jahren doch kommen, weil sie dann doch zum Theater eine Beziehung entwickelt haben. Man bindet sich so Generationen von Menschen.
Wir waren ja ganz begeistert von der Woyzeck-Inzenierung, da fragt man sich schon, ist das noch Theater oder ist das schon was anderes.
Nicht nur ist es noch Theater, das ist Theater für mich. Theater bedeutet immer, einen Stoff zu nehmen und mit reduzierten Mitteln eine Geschichte erzählen. Das Schöne an dieser Woyzeck-Inszenierung ist die Erzählung mit begrenzten Mitteln. Wir haben die Sprache und den Text reduziert, haben die Körperlichkeit extrem präzise eingeschränkt. Und trotzdem ist man von dieser Geschichte bewegt. Das ist für mich typisches Theater. Ich sage immer, es gibt die Marathonläufer und dann gibt es Walking. Und man fragt sich, wieso rennt diese Person eigentlich nicht? Oder im Fußball darf man nicht mit den Händen spielen, nur mit den Füßen, das ist nicht so praktisch, und durch diese Reduktion, entsteht etwas Schönes, etwas, das nicht allen gefällt, aber etwas Spezielles eben.
Es dauert ja auch immer etwas, bis eine Spielzeit durchgeplant ist, weit mehr als ein Jahr. Da lässt sich nur langsam auf Publikumswünsche reagieren.
Genau. Das ist wie mit der Oper, wo wir dachten, wir präsentieren besser bekanntere Titel, aber die Stückeliste für die kommende Spielzeit hatten wir schon fast vor Beginn der letzten fertig. Das zeigt auch, dass man die Sache nicht so gut hochrechnen kann, es ist vieles Intuition.
Oft ist es ja so, dass es während der ersten Spielzeit kaum Probleme gibt, weil der Enthusiasmus noch gewaltig ist, sagen wir, ähnlich wie beim Fußball, beim FCM. Wie setzen Sie da neue Reize für die zweite Spielzeit?
Es ist bei uns tatsächlich etwas leichter als beim Fußball. Einfach zu glauben, dass man im ersten Jahr alles ändert, dann in Euphorie spielt, singt, und dann einfach diese Erneuerung pflegt, ist falsch. Theater ist eine Maschine, die sich ständig bewegt, die sich ständig erneuert. Wir bringen für die nächste Spielzeit 26 Premieren auf den Spielplan, im Vergleich ist das extrem viel, das heißt, die Euphorie vom Novum her kriegen wir schon hin. Ich stimme zu, neue Besen kehren gut, da reichen nicht nur die Erfolge von der letzten Spielzeit. Aber wir sind da sehr optimistisch.
Machen Sie uns doch mal neugierig auf die neue Spielzeit.
Es gibt in allen Sparten Innovatives. Ich möchte betonen, dass wir die „Blume von Hawaii“ von Paul Abraham spielen und es wird viel neu geschrieben. Also diese Operetten-Tradition von den 30er Jahren, die ist ganz schön, diese Musik, wir machen jetzt eine Blume von Hawaii mit einem neuen musikalischen Arrangement. In der Sparte Schauspiel machen wir ein komplett unbekanntes Shakespeare-Stück. Dafür kommt Herr Kriegenburg zurück und in der Sparte Ballett machen wir mit „Schneewittchen“ von Jörg Mannes jetzt auch ein Familienballett, ein Novum für die nächste Spielzeit und das wird bestimmt zu einem Erfolg werden. Dazu gibt es wieder Überraschungsprojekte, die Verbindung mit der Stadt wird noch intensiver. Wir werden jetzt auch unserem Georg Philipp Telemann die große Bühne anbieten. Heißt, wir werden eine Oper von Telemann präsentieren, dabei arbeiten wir mit dem Telemann-Zentrum zusammen und wir schließen uns das Barock-Zentrum und das Barock-Publikum an.
Das Schauspiel kündigt viele Erstaufführungen an, aber keine bekannten Autoren. Von Shakespeare gibt es ein eher unbekanntes Stück, die Timon von Athen. Haben Sie da nicht Bedenken bei diesem Spielplan, steckt da eine Überlegung hinter?
Man sollte nicht denken, dass man alles kalkulieren kann. Es ist jetzt nicht wie mit einem Keksrezept, 90 Gramm Klassik. So funktioniert das nicht, die Spielplanansetzung ist eine sehr intuitive Sache. Da rufe ich jetzt nicht das Schauspiel an, oh, was habt ihr, eine nicht so klassische Spielzeit? Dann habe ich ein paar klassische Stücke bei mir. Man macht die Stücke, worauf man Lust hat, man macht auch die Stücke, wo das Ensemble mitsingen kann. Jetzt ist es glaube ich in den Drei- oder Vierspartenhäusern oft so, dass das Schauspielhaus die Sparte ist, die am nächsten am Puls der Gesellschaft liegt, die am meisten die Gewohnheiten schüttelt, die am meisten im Zentrum des Diskurses steht. Und klar ist die Repertoirepflege in einem Musiktheater anders, es ist so, dass die Oper da mehr gepflegt wird. Wichtig ist, dass dieses Schauspiel ein progressives Licht auf das Theater wirft, aber das in einer großen Diversität tut. Es gibt Stücke wie Odyssee, die wirklich auf körperliche performative Schauspielleistung pokern. Es gibt Textabende, wie „Im Menschen muss alles herrlich sein“. Es gibt diese Transformation von Klassikern wie Woyzeck. Also es ist zwar modern, aber es ist modern in der ganzen Diversität der Schauspieldiversität.
Wie geht es weiter mit dem Domplatz Open Air?
Die Sache ist so ein Erfolg. Wir sind dieses Jahr mit einer unglaublich starken Auslastung unterwegs. Ich finde es eine wichtige Marke, eine am Schluss mit all den Einschränkungen und negativen Aspekten doch schöne Nutzung des Stadtraums mit dem Dom als Kulisse. Die Entscheidung zur Fortführung ist eine Stadtangelegenheit, das heißt, es ist am Schluss nicht nur eine Intendanz-Entscheidung. Die neue Oberbürgermeisterin hat sich zum Domplatz positiv bekannt. Die Beigeordnete für Kultur hat sich auch extrem positiv zum Konzept bekannt. Wir sind uns der Fragen bewusst und versuchen das Konzept zu verbessern. Das führt zu unseren Führungen, die wir jetzt anbieten. Das funktioniert sogar. Wir haben auch versucht, den Zaun links und rechts etwas zu öffnen, und kann so jetzt die Proben beobachten. Es ist klar, es bleibt eine eingezäunte Fläche im Stadtzentrum, aber dafür sind wir dann Mitte Juli wieder weg.
Sie sind ja auch dafür bekannt, viele internationalen Kontakte zu pflegen. Wie wichtig sind denn die?
Für mich ist das zentral. Ein Theater soll für das eigene Publikum spielen, aber soll seine Inhalte auch immer noch einem anderen Publikum zeigen. Das ist zentral, das ist wichtig, das ist das Gegenteil von Provinzialismus. Ich werde sehr unterstützt in meiner erfolgreichen Umsetzung von internationaler Politik, die Politik freut sich, dass unsere Inszenierungen nach Palermo und nach München fahren, da sind sie stolz, denn das ist vermutlich für eine Stadt, die sich jetzt erst internationalisiert, sehr wichtig. Und am Schluss sind die Kultureinrichtungen extrem wichtig für die Ausstrahlung von Städten, denken Sie an Baden Baden, an die Philharmonie in Hamburg. Es ist für die Erkennungsmarke, die Ausstrahlung einer Stadt zentral. Und meine Bemühungen in diesem Bereich sind ständig und werden sich hoffentlich auch bald in weitere Erfolge kristallisieren.
Sie haben zu Beginn ihrer Zeit hier angedeutet, mehr auf Zusammenarbeit mit der freien Kulturszene setzen wollen. Wo stehen Sie dort?
Da ist das Potential noch nicht ausgeschöpft. Ich finde, dass die freie Szene in Magdeburg sichtbarer sein könnte. Wir bemühen uns jetzt seit anderthalb Jahren eine Plattform für die freie Szene anzubieten. Wir wollen ein kleines Musiktheater-Format, eine Art Festival gründen, wo wir einfach einen Wettbewerb organisieren für die freie Szene. Das ist sozusagen jetzt ein erster Versuch, was zu machen. Ich besuche jetzt regelmäßig die anderen Kultureinrichtungen, es wird eine engere Dynamik entstehen mit dem Puppentheater, ich gehe auch in die Museen um da Kooperationen zu machen. Also, wir sind auf dem Weg, und wir hoffen, dass in der nächsten Spielzeit und in denen darauf noch mehr Projekte entstehen, aber das ist so ein bisschen Schritt für Schritt. Ich hoffe, in anderthalb Jahren sagen zu können, wir sind jetzt an dem Punkt, dass wir ein erfolgreiches Projekt präsentiert haben.
Wie stellen Sie sich denn die Zusammenarbeit mit einem Museum vor?
Da geht es vor allem um Räume. Was heißt es, plötzlich einen Ballettabend in einem musealen Raum zu präsentieren? Was heißt es, mit den Räumlichkeiten zu spielen, also nicht einen frontale, klassischen Theaterabend anzubieten?
Dann legen Sie es auch darauf an, dass Theater und die allgemeine Bevölkerung wieder zusammengeführt werden, dass es nicht nur eine Beschäftigung der „Gebildeten“ ist.
Ich hoffe es. Es ist durch unsere neuen Initiativen sichtbar, ich nenne dabei gerne den ukrainischen Damenchor. Das sind bestimmt auch Leute, die sich sonst vor dem Theater gedrückt hätten, wegen Sprachbarrieren, eventuell auch Kaufkraft, denn Theater kostet, vielleicht ist das für eine gewisse Gesellschaftsschicht nicht unbedingt günstig. Aber ich habe immer gesagt, wir verstehen uns nicht als Fische im Aquarium, wo die Leute uns nur bewundernd anschauen, wir wollen auch integrieren. Wir waren gerade zu einem Festival, sehr speziell, da waren wirklich Leute, wo man denkt, der oder die werde ich in zehn Jahren wieder auf einer Bühne sehen. Das sind so lebensändernde Sachen. Ja, wir können ganz zufrieden sein, ohne Zynismus, ohne zu denken, dass wir alle erreichen werden, man muss die Leute auch nicht ins Theater prügeln.
Danke für das Gespräch!
© Engelhardt
Schauspielhaus/Theater Magdeburg
Otto-von-Guericke-Straße 64, 39104 Magdeburg
Theaterkasse: eine Stunde vor Vorstellungsbeginn