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Der Stadtläufer
Der Bund der Steuerzahler und die Oppositionsfraktionen im Landtag unseres Bundeslandes sind im Entsetzen darüber vereint, dass der Ältestenrat des Landtages beschlossen hat, dass Sachsen-Anhalt von den sich auf 100.000 Euro belaufenden Kosten für ein „Fest der Freiheit“ in der Prager Botschaft der Bundesrepublik etwa zwei Drittel übernehmen will. Mit diesem dreitägigen Fest soll an die legendäre Rede Hans-Dietrich Genschers erinnert werden, in der er den auf dem Botschaftsgelände ausharrenden Fluchtwilligen verkündete, dass ihre Ausreise genehmigt sei – auch wenn er gar nicht dazu kam, das entscheidende Wort dieses Satzes überhaupt auszusprechen. Der Chef des Steuerzahlerbundes warf zu Recht die Frage auf, seit wann Sachsen-Anhalt für die deutsche Außenpolitik zuständig sei, und wird ebenso wie viele andere Beobachter nicht überrascht sein, dass die Idee dazu von Gunnar Schellenberger stammt, dem sie bei einem Treffen mit dem deutschen Botschafter in Prag kam. (Unser Landtagspräsident liebt es nun einmal, auf Balkonen zu stehen und dabei Sekt zu trinken, dagegen kann der Mann vermutlich gar nichts machen.) Womöglich fühlt unser Land sich zuständig, weil es Genscher für einen Sohn Halle‘s hält, in dem er freilich gar nicht geboren ist und das er 1952 fluchtartig verließ. Man muss indes hoffen, dass dies nicht wirklich der Grund ist, denn sonst kommt Schellenberger vielleicht auch noch auf die Idee, demnächst zwei Drittel der Kosten der New Yorker Steuben-Parade zu übernehmen. Die Regierungsfraktionen verteidigen naturgemäß die Kostenübernahme, wobei insbesondere Genschers Parteikollege Guido Kosmehl sich ins Zeug legte und zu der Bemerkung verstieg, Genscher habe am 30.9.1989 in Prag die „Initialzündung für die friedliche Revolution“ in der DDR gegeben. Diese Einschätzung kommt denn doch ein wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass Glasnost und Perestroika da schon eine Zeitlang ihr Unwesen trieben, dass die DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 von heftigen Protesten begleitet waren, dass die Kommunistische Partei Ungarns im Januar 89 auf ihre Führungsrolle verzichtet und Ungarn im Juni den Grenzzaun zu Österreich zerschnitten, dass im selben Monat in Polen die Solidarnosc die Wahlen gewonnen und im Sommer eine massenhafte Republikflucht eingesetzt hatte. Auch die Gründung des Neuen Forums mit dem ausdrücklichen Wunsch, nicht mehr in einem „Staat von Bütteln und Spitzeln leben“ zu wollen, hatte da bereits stattgefunden und die erste große Leipziger Montagsdemo lag ebenfalls schon mehr als drei Wochen zurück. Aber vermutlich durfte der in Leipzig geborene Kosmehl noch nicht mit, weil er da erst 14 war. Genschers Verkündung seiner mit Honecker getroffenen Verabredung hat der Sache der Friedlichen Revolution sicherlich nicht geschadet, aber sie war nur ein Detail und keineswegs die „Initialzündung“. Sie war eine der Folgen, aber nicht die Ursache. Wenn man den 35. Jahrestag dieser Rede in der Prager Botschaft dennoch exzessiv feiern will, sollten die neuen Bundesländer wenigstens zusammenlegen – die alten werden sich vermutlich nicht beteiligen wollen.