© Kerstin Schomburg
Anton Andreew und Nora Buzalka
„Ich glaube, dass Theater ein site-specific Medium ist“, sagt Regisseur Florian Fischer. Mit anderen Worten: dass es für den Ort gemacht sein sollte, an dem es entsteht. Das sei längst nicht überall der Fall – in Magdeburg schon. Davon zeugt u.a. dessen kontinuierliche Beschäftigung mit Magdeburger Autoren: Nach „Gas“ von Georg Kaiser inszeniert er nun die 1980 entstandene „Kleinstadtnovelle“ des damals 19-jährigen Ronald M. Schernikau.
Für Fischer schließt sich damit ein persönlicher Kreis. Mit 14 Jahren entdeckte der bayerische Dorfjunge Schernikau für sich. Damals war es der Mutter des an HIV früh verstorbenen Autors gelungen, posthum dessen Opus Magnum „legende“ zu veröffentlichen. Die Ausgaben, die im Umlauf waren, konnte man an einer Hand abzählen – also folgte Fischer der Fährte des Buches durch die Republik und las den 900-Seiter schließlich im Lesesaal einer Bibliothek in einem Ritt. Aus Ehrfurcht hätte sich Fischer womöglich nie getraut, seinen Schernikau auf eine Bühne zu bringen – als ihm Dramaturg Bastian Lomsché jedoch die „Kleinstadtnovelle“ ans Herz legte, brauchte es nicht viel Überredung.
In der Coming-of-Age-Geschichte ringt der Schüler b. darum, seine Persönlichkeit gegen die starren Normen von Schulsystem und Gesellschaft durchzusetzen. Auf einer Klassenfahrt schläft er mit einem Schulkameraden, es kommt zum Skandal, der Schulverweis droht. b’s Mutter jedoch stellt sich hinter ihren Sohn. Für Fischer liegt genau darin die Pointe: „Geschichten über Outings sind fast immer problembehaftet. Du lernst, dass du ausgestoßen oder krank wirst.“ Nicht so bei Schernikau – was wohl an dessen Mutter, Ellen Schernikau, liegen dürfte, die „es geschafft hat, ihren Sohn zu dem zu erziehen, was er war“. Fischers Inszenierung ist eine Verbeugung vor der 88jährigen, die regen Anteil an der Probenarbeit nimmt. In den zweiten Teil des Abends baut Fischer O-Töne aus Gesprächen zwischen Ronald und Ellen ein und fügt der Novelle eine universelle Ebene hinzu. Schließlich sind die Themen, die Schernikau verhandelt, erschreckend aktuell: „Die Straße wird wieder rougher“, konstatiert Fischer, Menschen auszuschließen sei zunehmend en vogue – und „jeder soziale Ausschluss ist der Untergang einer Welt“.
Schon beim ersten Magdeburg-Aufenthalt war Fischer aufgefallen, dass die Stadt wenige Begegnungsorte, insbesondere für queere Menschen, bietet. Hier sieht er das Theater in der Pflicht: „Gerade in Zeiten, in denen es gilt, die Freiheit zu verteidigen, kann das Theater zum Schutzraum werden.“ Entsprechend wird „Kleinstadtnovelle“ nicht mit dem Schlussapplaus enden: Der als Kneipe gestaltete Raum, in dem das Publikum an Varieté-Tischen Platz nimmt, lädt nach der Vorstellung zum Zusammenbleiben ein. Im Diskurs- und Schutzraum Theater.
© Engelhardt
Schauspielhaus/Theater Magdeburg
Otto-von-Guericke-Straße 64, 39104 Magdeburg
Theaterkasse: eine Stunde vor Vorstellungsbeginn