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Human Flow: Dokumentarfilm internationale Flüchlingsströme
Human Flow: Dokumentarfilm internationale Flüchlingsströme
Herr Ai Weiwei, wann haben Sie damit begonnen, sich nicht nur von der menschlichen, sondern auch von einer künstlerischen Seite aus für Flüchtlinge zu interessieren? Zur ersten Annäherung an die Materie kam es bereits in China. Ich stand unter Hausarrest. Es war mir nicht gestattet, zu reisen. Natürlich setzte ich mich intensiv mit den Nachrichten über die Krise im Nahen Osten auseinander. Viele der Flüchtlinge landeten in irakischen Camps, weil der ISIS Völkermord an Minderheiten betrieb. Es entstanden Flüchtlingslager der UNO im Irak. Mich interessierte sehr, wer diese entwurzelten Menschen sind und wie man ihnen eine Stimme geben kann. Ich habe zwei meiner Studioassistenten entsandt, weil ich selbst dem Reiseverbot unterlag, um mit jedermann Interviews zu führen. Zu diesem Zweck habe ich ein Formblatt mit Fragen entworfen wie: Woher kommst Du? Wie sieht Dein Leben aus? Welche Bedingungen sind im Camp? Alle haben meine Fragen bereitwillig beantwortet und wir haben einen Film über ihre Situation gemacht. Das war, bevor ich wieder in Besitz meines Passes war.
Sie haben in vielen Teilen der Welt gedreht. Welcher rote Faden lag Ihrer Arbeit zugrunde? Es war klar definiert, dass der fertige Film eine bestimmte Perspektive einnehmen und eine spezielle Sprache sprechen soll. Wir bedienen uns keiner journalistischen Herangehensweise. Die globale Flüchtlingssituation ist sehr komplex. Einige Flüchtlinge sind seit mehr als sechs Jahren auf der Flucht, andere erst seit gestern. Man trifft sie in völlig unterschiedlichen geografischen Regionen: Im Mittleren Osten, in Afrika, in Asien, zum Beispiel in Bangladesch, aber auch in Mexiko. Auch in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Italien wurde gedreht. Wir hatten ein großes Team, viele Crewmitglieder arbeiteten gleichzeitig an verschiedenen Orten. Wir haben die sogenannten Brennpunkte eingehend studiert, um festzustellen, was dort tatsächlich passiert. Wir bemühten uns um einen möglichst objektiven Standpunkt. Wie gelangen die Menschen über die Grenze? Wie kommen sie an den Strand? Wie viele sind es? Wir haben mehrere hundert Interviews mit den unterschiedlichsten Leuten geführt: Mit Regierungsbeamten, Funktionären der UN, mit freiwilligen Helfern und natürlich mit den Flüchtlingen selbst. Wir haben auch mit Schleppern, einem Priester und mit Totengräbern gesprochen.
Sie wollten aber nicht dieselben Bilder zeigen, die in den Nachrichten auftauchen? Genau. Die Aufnahmen sollten weder zu schockierend noch zu sentimental sein. Wir wollen der Menschenwürde ein Gesicht geben. Gleichzeitig möchten wir die Schwierigkeiten aufzeigen, mit denen sich diese Menschen konfrontiert sehen. Es ist fast unmöglich, all das in zwei Stunden Film zu zeigen. Wir sprechen ehrlich und sehr sanft über den allgemeinen Zustand der Menschheit und beobachten aus einer globalen Perspektive. Dazu brauchte es eine filmische Sprache, die diese Perspektive wirklich einfangen kann. Hier kamen die Aufnahmen der Drohnen ins Spiel. Sie zeigen die massive Beschaffenheit der Flüchtlingslager. Sie ermöglichen es, eine Vielzahl an Informationen in kürzester Zeit zu vermitteln. Das verdichtet den Film und ermöglicht einen einfacheren Zugang zu den verschiedenen Orten.
Wann wussten Sie, dass der Film reif für das Kino ist? Der Film ist beendet, aber er ist weit davon entfernt, fertig zu sein. Er bleibt fragmentarisch. Es wird mir niemals gelingen, einen Film über dieses Thema zu machen, den ich als komplett empfinden würde. Viele der Menschen, die gezeigt werden, sitzen immer noch dort. Und die Bedingungen haben sich verschlechtert, zum Beispiel in Bangladesch oder im Jemen. Es ist ein Massenmord, der sich vor dem Angesicht der ganzen Welt abspielt. Wir sehen es und lassen es geschehen. Wir müssen unser Menschsein und unsere zivilisierte, machtvolle Gesellschaft hinterfragen. Wollen wir wirklich so weiterleben oder nicht? Ich habe mir die deutschen Wahlplakate angeschaut. Viele verbreiteten Slogans, die zeigen, dass die am rechten Rand angesiedelten Parteien auf dem Vormarsch sind. Sie gewinnen an Popularität. Das erscheint mir surreal.
Weil wir scheinbar nichts aus der Geschichte gelernt haben? Aus der Geschichte nicht, aber auch nicht aus vielen Dingen, die sich gegenwärtig auf der Welt abspielen. Nicht nur in Europa, auch in Amerika. Wir haben uns daran gewöhnt, Demokratie und Freiheit als selbstverständlich zu betrachten. Das sind sie aber nicht. Die Zustände können sich sehr schnell verändern. Das ist furchteinflößend. Man muss sich Sorgen um die Kinder machen. Man muss sich als Ausländer Sorgen machen oder als Mensch, der eine andere Meinung vertritt. Jeder kann selbst zum Flüchtling werden. Deshalb mussten wir diesen Film machen. Er liefert keine absolute Antwort. Aber er ermöglicht es mir, mich ins Geschehen einzumischen. Das ist sehr wichtig. Wie oft zucken die Menschen mit den Schultern und sagen „Was können wir schon tun?“. Man kann viel tun. Eine Gesellschaft setzt sich immer aus Gruppen von Individuen zusammen. Man kann Einfluss auf andere Menschen ausüben und seiner Stimme Gehör verschaffen. Es wäre doch eine Schande, wenn wir unseren Kindern später gestehen müssten, dass wir nichts unternommen haben. Oder dass wir keine Macht gehabt hätten. Komm schon! Wir haben große Macht.
Sehen Sie sich selbst als Flüchtling? Ich glaube, wir alle sind irgendwie auf der Flucht. Wenn jemand aus seinem Heim vertrieben wird, wenn jemand keine Chance auf Bildung oder medizinische Versorgung hat, dann wirft das ein schlechtes Licht auf die Menschheit. Wir stellen uns nicht unserer Verantwortung, anderen Menschen zu helfen. Unser aller moralischer Zustand steht in Frage. Was mich selbst betrifft, so nennen wir uns in China nicht Flüchtlinge. Mein Vater (Anm.: der Dichter und Regimekritiker Ai Qing) wurde für zwanzig Jahre in den Nordwesten Chinas verbannt. Ich selbst habe einige Zeit in New York verbracht, ohne die Sprache zu sprechen und ohne ökonomische Unterstützung. Ich kann Menschen gut verstehen, die ihr Heim verloren haben und irgendwo als Fremde leben. Wir treffen uns heute in Berlin. Als Künstler genieße ich natürlich viele Privilegien. Aber ich spreche immer noch nicht Deutsch. Nach wie vor bleibt mir der Rückweg nach China verwehrt. Deswegen lebe ich nicht dort. Mir bleib keine andere Wahl.
Wie definieren Sie Heimat? Für Worte wie „Heimatland“ habe ich keinen Sinn. Ich halte es mit Albert Einstein, der einmal sinngemäß gesagt hat: „An dem Ort, den ich Zuhause nenne, sind die Leute, mit denen ich meine Ideen teilen kann.“. Ich denke, das ist die perfekte Antwort. Wenn ein Platz für Demokratie und das Recht auf freie Rede steht und wenn er die Menschenwürde beschützt, kann er mein Zuhause sein.
Sie sind nicht grundsätzlich gegen Mauern, wenn diese die Individualität schützen. Gerade in Berlin hat man mit Mauern gewisse Erfahrungen. Es gibt in der Geschichte nie nur Schwarz und Weiß. Jeder ist dafür verantwortlich, was in einer Gesellschaft passiert. So fühle ich. Der Fall der Berliner Mauer hat Deutschland vereinigt und dem Land eine stärkere Identität verliehen. Es ist sehr wichtig, die Unterschiede wahrzunehmen, aber in der Ideologie vereint zu sein. Beides hat seine Berechtigung. Die Unterschiede dürfen der Einigkeit nicht geopfert werden, sie sind historisch gewachsen. Die menschliche Gesellschaft hat immer dann wichtige Veränderungen durchgemacht, wenn es Unterschiede und Auseinandersetzungen gab. Sie machen eine Gesellschaft lebendig und pulsierend. Wenn ein Streit, ein Meinungsaustausch rational geführt wird, treibt er die Entwicklung voran.
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